Falsche Ansichten zur EU
Man kann Europa lieben. Das sind dann Städte wie Florenz und Siena, Rom, Paris und London, Wien, Madrid und Warschau, Stockholm und Budapest, Prag und Dubrovnik, und sicher auch Frankfurt am Main oder Berlin. Viele weitere Namen könnten genannt werden. Es sind Kathedralen und Dorfkirchen, Schlösser und Burgen und immer wieder Markt- und Rathausplätze als Orte öffentlicher Geselligkeit an die der Liebhaber Europas denken mag. Er hat eine Kulturlandschaft vor Augen, die all diese Elemente umfasst. Er mag an Bücher denken oder Melodien summen. Und all das kann man lieben. Man konnte es sogar lieben in Zeiten, in denen die europäischen Staaten sich und diese Kulturlandschaft, von Bauern, Arbeitern und Bürgern geschaffen, immer wieder mit Krieg überzogen und ruinierten.
Die EU aber kann und muss man nicht lieben, selbst nicht dann, wenn an vielen Objekten der Liebe ein großes Schild anzeigt, dass sie ohne EU-Hilfe dem Verfall ausgeliefert wären. Man kann die EU nur schätzen und sich für ihren Fortbestand engagieren. Ein bisschen verstehen muss man sie auch. Das geht nur über ein Minimum an Kenntnis ihrer Geschichte.
Brüssel als Popanz
Für manche Europäer, vor allem aber für viele europäische Intellektuelle könnte das Problem mit der EU darin bestehen, dass sie die Gefühle zu Europa und zur EU nicht auseinander halten können. Ihre Liebe zu Europa schlägt in Verachtung für die EU um. Je mehr sie französischen Schimmelkäse lieben, desto weniger schmeckt ihnen die EU, die angeblich dem Käse den Schimmel austreiben will: Europa ist Vielfalt, die EU aber einfältige Bürokratie.
Hans Magnus Enzensberger hat den Prix de Littérature Européenne in Cognac genutzt, um einen Essay über die EU zu schreiben: Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas. Die Sonning-Stiftung in Kopenhagen hat auch ihr Scherflein beigetragen. Herausgekommen ist ein Sammelsurium der üblichen von Vorurteilen geprägten Allgemeinplätze. Seitenlang kann er die Leser mit Abkürzungen auf Basis unterschiedlicher Sprachen überziehen. Abkürzungen jeder Art sind eine EU-Marotte, aber doch eine vergleichsweise harmlose in Zeiten des Internets. Es ist die Marotte von Fachleuten. Und Fachleute braucht der europäische Integrationsprozess, das heißt er braucht „Brüssel“, den Beamtenapparat des Europäischen Rates genauso wie den der Kommission und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Parlaments. Ihre erste Kompetenz ist dabei der sprachgewandte Umgang untereinander, trotz ihrer Herkunft aus unterschiedlichen Sprachfamilien und nationalen Traditionen. Das schafft eine andere Mentalität als sie in nationalen Bürokratien genährt wird.
Vielfalt muss nicht Regellosigkeit bedeuten
In einem fiktiven Zwiegespräch bei einem gehobenen Brüsseler Italiener mit einem hohen EU-Beamten, gebildet und charmant, entfaltet Enzensberger den großen Konflikt zwischen der „Lebenswelt der Unionsbürger“ einerseits und auf der anderen Seite, „weitgehend isoliert davon“, dem „Biotop der Institutionen“. Er beschwört die Zivilgesellschaft, die sich, was die Integration betrifft, „längst von den Behörden unabhängig gemacht“ habe. „Heute verbinden uns die zivilen Netze stärker als alle Abkommen, die Sie hier in Brüssel aushandeln. Millionen von Fäden schaffen Interdependenzen, die sich Ihrer Kontrolle entziehen und die Sie weder verknüpfen noch zerreißen können.“
Aber ist die Brüsseler „Bürokratie“ nicht selbst ein ziviles Netzwerk, das gerade nicht auf Befehl und Gehorsam beruht, sondern aus der Kooperation bei der Analyse europäischer Probleme und dem Aufspüren von Lösungsmöglichkeiten entsteht? Vielleicht kann man die These wagen, dass „Brüssel“ mit den Leuten, die dort für die EU arbeiten oder gearbeitet haben, zum zentralen Knotenpunkt einer europäisch vernetzten Zivilgesellschaft geworden ist.
Enzensberger lässt seinen Bürokraten den bescheidenen Einwand einwerfen, dass niemand eine solche Kontrolle der zivilen Netze vorhabe, um dann aufzutrumpfen: „Die Institutionen, die Europa über einen Kamm scheren und unsere Lebenswelt kolonisieren wollen, hindern uns mehr, als sie uns nützen. Sie sind darauf erpicht, uns zu normieren. Einheit ist gut, aber Vielfalt ist besser. Bitte lassen sie uns mit Ihren überflüssigen Direktiven in Ruhe.“ Na toll! Dann hätten wir einen gemeinsamen Binnenmarkt, auf dem nichts geregelt wäre.
Die EU normiert ja nicht Menschen, sondern Waren und durch Vorschriften etwa zum Unfallschutz Maschinerie und Produktionsprozesse. Da ärgert sich mancher Drucker, dass durch Unterbrechung einer Lichtschranke beim Rumfummeln in der laufenden Druckmaschine die ganze Maschine stillsteht. Er schimpft auf die Gängelung durch die EU und erst recht tut das der Chef der Druckerei. Bis es dann einem gelungen ist, die Lichtschranke zu überlisten und ein Arm ins Laufwerk kommt.
Enzensberger könnte ohne die EU aus beliebig gekrümmten deutschen Gurken exakt die auswählen, die am meisten belastet ist. Eine schöne Freiheit von Vormundschaft! Dass vor allem bei der Regulierung des Binnenmarktes für Lebensmittel einiger Unsinn passiert ist, wird niemand bestreiten wollen. Einiges zum Beispiel beim Krümmungsgrad der Gurken wurde auch korrigiert, aber Höchstgrenzen für die Belastung mit Pflanzengift und Düngemitteln müssen ja kein Fehler sein. Gegängelt und unter Vormundschaft gestellt sieht sich durch solche Regelungen die Chemieindustrie. Wie energisch kämpft sie doch, um Belastungsgrenzen möglichst hoch zu halten oder ganz zu verhindern. Die besten Helfer findet sie dabei unter den Regierungen, die als Vertreter einer nationalen Industriepolitik sich zu Oberlobbyisten aufwerfen. Manchmal ist ihnen die Gesundheit ihrer Wählerinnen und Wähler ganz egal. Angebliche Gefährdung von tausend Arbeitsplätzen jetzt scheint viel stärker ins Gewicht zu fallen als die langfristige Schädigung von Hundertrausenden.
Ohne es zu merken, polemisiert Enzensberger mit seinem Angriff auf das sanfte Monster Brüssel fundamentalistisch gegen den Gemeinsamen Binnenmarkt. Selbst ein lokaler Biomarkt mit regionalen Produkten braucht gemeinsame Standards und die Kontrolle ihrer Einhaltung. Das ist nicht nur im Interesse der Konsumenten, sondern auch im Interesse der Produzenten und Verkäufer, die so gegen unfairen und betrügerischen Wettbewerb geschützt werden. Sicher wurde bei der tausendfachen Normierung von Waren im Einzelfall übertrieben. Aber ohne diese Normierung von Waren, nicht von Menschen, gebe es keinen Binnenmarkt. In ihm aber vermengt sich täglich bei jedem Einkauf die Lebenswelt der Unionsbürger mit den Institutionen der EU. Im Großen und Ganzen zugunsten der Lebenswelt der Unionsbürger.
Geburtsfehler lassen sich nicht weg zaubern
Viele Kritiker der EU-Politik, so auch wieder jüngst Jürgen Habermas (Süddeutsche Zeitung vom 7. April), kritisieren den „Geburtsfehler“ der Europäischen Währungsunion, die ökonomische Integration weiter vorangetrieben zu haben als die politische Einigung. Man kann diesen Geburtsfehler beklagen, sollte sich dann aber darüber im Klaren sein, dass ohne ihn schon 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nicht zustande gekommen wäre und es eine Geburt der EU gar nicht gegeben hätte.
Die EU ist in erster Linie immer noch eine Staatenunion, deren Mitglieder die Souveränität in wachsendem Umfang geteilt haben, zugleich aber formell souveräne Staaten blieben. Die EU ist in ihrem Ursprung eine staatliche Veranstaltung, das Werk einer Handvoll Regierungen, die sich zu einem gemeinsamen Jahrhundertvorhaben durchgerungen hatten, ohne genau zu wissen, wie das mit der Zeit im Einzelnen aussehen könnte.
Die Regierungen zogen und ziehen ihre demokratische Legitimation bei den Verhandlungen aus ihrer parlamentarischen Mehrheit. Durch die Billigung der Verhandlungsergebnisse in den nationalen Parlamenten werden die Entscheidungen demokratisch legitimiert. Ohne diese demokratisch legitimierten Regierungsentscheidungen gäbe und gibt es keine Fortschritte des Integrationsprozesses.
Die Vereinbarungen im Europäischen Rat machten die Regierungen für die europäische Gesetzgebung verantwortlich, deren nationale Exekutive nur sie selbst sein konnten. Offensichtlich hatten die Regierungen der Gründungsmitglieder eine gewisse Skepsis gegenüber der eigenen Fähigkeit, den Blick über enge nationale Interessen hinaus zu lenken. Die Kommission zu schaffen und ihr allein die Initiative für Gesetzesvorhaben einzuräumen, war das Ergebnis vorausschauender Selbstkritik. Die EU-Gründer befürchteten die Lähmung der Gemeinschaft durch nationale Egoismen und schufen deshalb eine Institution, die als Hüterin der Verträge das Vertrauen untereinander sichern sollte.
In dem Maße, wie sich die Staaten zu Mehrheitsentscheidungen bereitfanden, konnte die demokratische Legitimierung der Regierungen nicht mehr ausreichen. Es musste auf europäischer Ebene selbst eine demokratische Kontrolle etabliert werden. Wenn ein Staat durch eine Mehrheit anderer Staaten überstimmt werden kann, muss diese Verletzung seiner nationalstaatlichen Souveränität durch eine gewählte europäische Instanz sanktioniert, also geheilt werden. Daher wächst mit der Zunahme von Mehrheitsentscheidungen der Regierungen, die Bedeutung des Europäischen Parlaments. Sie wächst nicht durch Beseitigung des „Geburtsfehlers“ – was ja nicht geht – sondern durch die Einsicht der Regierungen, dass sie ohne Mehrheitsentscheidungen nichts zustande bringen, dann aber ohne wachsendes Gegengewicht eines europäischen Parlaments ständigen Streitereien über einmal getroffene Entscheidungen ausgesetzt blieben.
Die Blindheit gegenüber einer neuen Form
Die EU ist eine neue politische Form. Sie bleibt Staatenunion und entwickelt und verstärkt zugleich Formen einer Bürgerunion. Sie ist eine Erfindung. Offensichtlich haben nicht zuletzt viele geradlinig denkende Intellektuelle mit ihr Schwierigkeiten. Robert Menasse zum Beispiel hatte immer wieder die Klage über das „demokratische Defizit“ der EU vorgebetet. Im letzten Jahr hatte ihn die Recherche für einen neuen Roman nach Brüssel verschlagen. Dort wurde ihm klar, dass der Maßstab für die Funktionsweise der EU nicht die bestehenden Nationalstaaten sein können (Die Zeit 20.5. 2010). Seine Beobachtungen in Brüssel überzeugten ihn, dass nicht „Brüssel“ zu einem sanften „Monster“ heranwächst, sondern dass ohne „Brüssel“ die zerstörerischen Mechanismen des Gegeneinanders der nationalen Egoismen sich ungehemmt entfalten könnten.
Indem er gelegentlich die Probleme der Demokratie in einem staatlich initiierten und beherrschten Integrationsprozess letzten Endes der Demokratie anlastete, schüttete er das Kind mit dem Bad aus. Auch ist es Unsinn, wenn er meint, bei der Kommission fielen in ihrem Initiativrecht Legislative und Exekutive zusammen. Sie ist weder das Eine noch das Andere. Wohl aber die Schleuse bei beidem. Die Ansicht, dass es in der EU keine Gewaltenteilung gebe, geht auch an den Tatsachen vorbei. Sie ist nur nicht deckungsgleich mit der in den Nationalstaaten. Die Macht verteilt sich in der EU auf mehr Institutionen als die klassischen drei und lässt sich dort viel schwerer monopolisieren als in jedem Nationalstaat.
Diese Irrtümer ließen Menasse „Brüssel“ mit der habsburgisch-josephinischen Reformbürokratie des 18. Jahrhunderts vergleichen (Interview Die Presse vom 23.4. 2010). Das ist zu viel des Guten. Die Brüsseler Beamten haben keinen Durchgriff bis in die letzte Garnisonstadt. Aber er hat Recht, wenn er der Kritik entgegenhält: „Hunderttausende Menschen profitieren davon, dass fortschrittliche EU-Richtlinien, Verordnungen und EUGH-Urteile nationales Recht ,overrulen‘, dann lesen sie Enzensberger und erfahren, dass das monströs sei.“ Er folgert: „Wir müssen für die neue Situation Demokratie neu erfinden. Das ist ein noch nicht geglückter Prozess. Aber es ist abwegig, die nationalstaatliche Demokratie als der Weisheit letzten Schluss anzusehen. Das können Enzensberger und Habermas nicht ernsthaft glauben.“ (Interview Die Welt vom 09.04.)
Wenn ein lang geübter Kritiker des Demokratiedefizits der EU nach eigener Recherche und Überprüfung seiner Vorurteile zu diesem Urteil gelangt, muss man die Hoffnung in die Lernfähigkeit der europäischen Intelligenz nicht aufgeben.
Eher als von der EU gehen die Gefahren für die europäische Demokratie von Mitgliedstaaten aus. Man bekommt den Eindruck, dass die europäischen Gesellschaften alles Mögliche produzieren können, aber nicht mehr länger Staatsmänner oder Staatsfrauen von europäischem Format hervorbringen. Auf die aber waren Fortschritte der europäischen Einigung als von Staaten getragenem Prozess immer angewiesen. Insofern wird zur entscheidenden Frage, ob die europäischen Netze schon so stark sind, dass sie dieses Defizit ausgleichen können. Hier kann man eher bei „Brüssel“ Unterstützung finden, als bei der sich nationalstaatlich einmauernden politischen Klasse der Mitgliedstaaten.